Verlegerin Britta Jürgs im Porträt:
„Tolle Frauen, sichtbar machen“ (2017)
Ein Artikel von Yalda-Hannah Franzen
Von außen würde wahrscheinlich niemand vermuten, dass hinter den Wänden dieses typischen Berliner Wohnhauses in der Emdener Straße in Moabit ein kleiner Verlag liegt: AvivA. Noch dazu ein Verlag, der weitgehend aus nur einer Frau, aus Britta Jürgs, besteht und der es sich auf die Fahnen geschrieben hat, Biografien und Porträts außergewöhnlicher Frauen und von der Öffentlichkeit zu Unrecht vergessene Autorinnen zu publizieren.
Der Verlag besteht vor allem aus einem großen Raum, in dem sich die Bücher bis zur Decke stapeln. Auf dem Schreibtisch türmen sich in verschiedenen Haufen Papiere, an den Wänden hängen schwarz-weiß Fotografien aus den 20-er Jahren, mit kessen Sprüchen versehen. Dass hier irgendetwas passiert, spürt man sofort. Es riecht alles nach Tatendrang. Passend dazu der Name: AvivA kommt aus dem Hebräischen und ist die weibliche Form von Frühling, also Veränderung und Aufbruch.
Britta Jürgs hat eine laute Stimme, lässt sich nicht bitten, sondern redet wie ein reißender Fluss. In ihrem Verlag, in dem sie von einer freien Mitarbeiterin unterstützt wird, ist sie Lektorin, Layouterin, Texterin und Designerin. Eigentlich hat sie Kunstgeschichte, Germanistik und Romanistik in Frankfurt/Main, Paris und Berlin studiert. Das meiste, was dazu gehört, um einen Verlag zu führen, hat sie sich selbst beigebracht „learning by doing“, wie sie es ausdrückt. Ihr Verlag feiert nun dieses Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Sich vergessenen Autorinnen zu widmen, war alles andere als eine profitable Marktlücke für Britta Jürgs, sondern vielmehr ein inneres Bedürfnis: „Man muss sichtbarer machen, was für tolle Frauen es gibt und was Frauen leisten und vor allem auch geleistet haben!“ Auch wenn Britta Jürgs selbst keine Strichlisten über die Präsenz von Frauen im Literaturbetrieb – beispielsweise bei der Vergabe von Literaturpreisen oder bei Buchrezensionen – führt, wie dies andere Kolleginnen tun, möchte sie doch gerne, dass sich durch ihr Zutun die Waagschale der Sichtbarkeit in Richtung der Autorinnen verschiebt. „Es muss nicht Feminismus draufstehen, aber es ist Feminismus drin“, sagt Britta Jürgs und meint damit, dass ihre Arbeit auch dazu beiträgt, männlich dominierter Geschichtsschreibung etwas entgegenzusetzen. Die meisten ihrer wiederentdeckten Autorinnen sind zudem jüdischen Ursprungs. Und warum? „Gerechtigkeit und Verantwortung“, sagt sie sofort. „Ich tu das meine, damit das kulturelle Erbe deutlich wird. Und natürlich verlege ich sie auch schlicht und einfach deshalb, weil ich finde, dass es tolle Literatur ist.“ Wenn sie redet, ist sie kaum zu stoppen, sie gestikuliert mit den Händen. Von zehn Fragen, die ich ihr stellen würde, beantwortet sie neun schon von alleine. Dass ihre Arbeit sie begeistert und durch den Tag trägt, ist nicht nur an ihrem Elan zu erkennen, sondern auch an der Detailtreue, mit der sie erzählt.
Der erste Roman, der im AvivA Verlag veröffentlicht wurde, stammt von Alice Berend: „Die Bräutigame der Babette Bomberling“. Es geht um eine Sargfabrikantengattin, die einen Bräutigam für ihre Tochter sucht. Britta Jürgs fing im Antiquariat an, die ersten zwei Seiten zu lesen, und musste spontan lachen. Sie wollte mehr über die ihr bis dahin unbekannte Autorin erfahren. Danach fing die Recherche an. Sie begab sich auf die Suche nach den Nachkommen von Alice Berend. Vergessene Autorinnen zu finden, heißt vor allem erst einmal viel zu suchen. Britta Jürgs geht dafür nicht nur selbst ins Antiquariat und in die Bibliothek, sondern bekommt auch immer wieder spannende Publikationsvorschläge, meist von Literaturwissenschaftler_innen. „Alice Berend war ein Zufallsfund“, erzählt Britta Jürgs. Ein Zufall, der Alice Berend, die zu ihren Lebzeiten berühmt war und deren Bücher in hunderttausender Auflagen gedruckt wurden, posthum wieder ins Gedächtnis rief. Angeregt durch die Wiederveröffentlichung ihres Werkes „Die Bräutigame der Babette Bomberling“ 1998 im AvivA Verlag wurde eine Straße in Tiergarten nach Alice Berend benannt.
Zwei Autorinnen, die Britta Jürgs besonders umtreiben, sind Lili Grün und Ruth Landshoff-Yorck. Sie kennt nicht nur ihre geschriebenen Worte, sondern auch ihre Biografien. Wenn sie anfängt, über eine ihrer Entdeckungen zu reden, dann klingt es fast so, als wären es alte Freundinnen, mit denen sie früher ab und zu um die Häuser zog – so viele Details und Anekdoten fallen ihr ein. Aber es ist unmöglich, dass sie sich kennen, denn eine Autorin ist gestorben, bevor Britta Jürgs das Licht der Welt erblickte und die andere als Britta Jürgs noch ein Kleinkind war.
Die vom AvivA Verlag entdeckte Lilli Grün ist eine jüdische Autorin aus Wien. „An ihren Texten hat mich fasziniert, dass uns die 20-er Jahre sehr nah vorkommen und die Lebenswelten der jungen Frauen uns erstaunlich aktuell erscheinen.“ Lili Grün wurde 1942 deportiert und ermordet. Im Berlin der 20-er Jahre hielt sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und trat daneben im Theater und im Kabarett auf. Ihre Bücher und Gedichte beschäftigen sich mit Verliebtheit und Ernüchterung, mit dem Hin- und Hergerissensein zwischen Autonomie, Selbstbehauptung und dem »Mann mit starken Armen“ – und immer wieder mit dem Thema der finanziellen Unsicherheit.
„Mein kleiner Junge kokettier´ nicht mit mir
ich hab‘ andere Sorgen.
Den ganzen Tag lauf‘ich herum,
Um Geld für die Miete zu borgen.“ (Lili Grün: aus „Monolog“, abgedruckt in „Mädchenhimmel!“)
Alles, über das sich auch die Generation Y sorgt. „Auch wenn ich eigentlich keine Gedichte verlege, musste ich es in diesem Fall einfach tun“. Heraus kam der Band mit Gedichten und Geschichten „Mädchenhimmel!“. Er hat 2014 für sie völlig unerwartet den Buchhändlerpreis der Hotlist der unabhängigen Verlage, den Melusine-Huss-Preis, gewonnen. Britta Jürgs lächelt: „Ist das nicht Wahnsinn? Sie kannte vorher wirklich niemand mehr!“
Und nicht nur Lili Grün hat Britta Jürgs veröffentlicht, sondern auch Ruth Landshoff-Yorck. Ruth Landshoff-Yorck war in der sogenannten „Bohème“ der 20-er Jahre in Berlin zugange „gerne am Feiern“. Sie wollte hemmungslos ins Hier und Jetzt eintauchen. Sie schrieb Gedichte und veröffentlichte diese im Privatdruck. Auf einer Party lernte Landshoff-Yorck jemanden vom Ullsteinverlag kennen und bekam den Auftrag, über den „Lifestyle“ der 20-er Jahre zu schreiben. Das brachte den Stein ins Rollen. Sie schrieb Feuilletons über Männer und Frauen, Autos und Reisen und über Zeitgeist und Lebensart der 20er Jahre – bei AvivA inzwischen in einer Auswahl in dem von Walter Fähnders herausgegebenen Feuilletonband „Das Mädchen mit wenig PS“ versammelt – und veröffentlichte 1930 ihren ersten Roman: „Die Vielen und der Eine“. Schon ihr zweiter Roman, der ursprünglich 1933 publiziert werden sollte, konnte in Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht mehr erscheinen. Auch sie, als eine Frau jüdischen Ursprungs, emigrierte zuerst nach Frankreich, dann in die USA und verstarb 1966 in New York. In ihrem Nachlass fanden sich weitere Romane, die nicht mehr gedruckt wurden. Diese hat Britta Jürgs dann mit 70 Jahren Verspätung herausgebracht –neben dem „Roman einer Tänzerin“ von 1933, von dem bereits die Satzfahnen existierten, unter anderem auch „Die Schatzsucher von Venedig“. In all diesen Büchern lässt sich eine Autorin entdecken, deren Texte als euphorisch, kess und manchmal auch ein bisschen größenwahnsinnig gelten, wie der Tagesspiegel es treffend beschreibt.
Als Kind war Annika aus Pippi Langstrumpf die Heldin von Britta Jürgs, heute sind es die jüdischen Autorinnen, die massiv an ihrem künstlerischen Schaffen gehindert wurden und die ihrer Nachwelt dennoch bemerkenswerte Literatur hinterließen. Reich wird Britta Jürgs mit ihrem Verlag nicht, doch sie lebt mit dem Verlag ihren Traum und nimmt dafür auch „Buchhaltung und Nachtschichten“ in Kauf. Vor unserem Interview ging ihre Nachtschicht bis vier Uhr morgens. Ein kleiner Wermutstropfen bleibt – das ewige Dilemma vom Geld und Glück, von Sicherheit und Selbstverwirklichung. Trotzdem: „Wenn man nicht Reichtum und Sinnerfüllung gleichzeitig haben kann, dann würde ich immer Glück dem Reichtum vorziehen“. Auch wenn das viele nur so dahersagen, weil es in manchen Kreisen zum guten Ton gehört, ihr glaubt man es. Ihr Rat: „Junge Menschen sollten herausfinden, wo ihre Träume liegen und sie ausprobieren“. „Was kann passieren, außer dass es schiefgeht?“
Ja, was eigentlich?
Am Ende überreicht sie mir noch ein Exemplar von „Mädchenhimmel!“. Hinten ist ein Zitat aus einer tollen Rezension von Deniz Yücel zu finden: „Es sind gefühlvolle Beschreibungen des Großstadtlebens, humorvoll und selbstironisch erzählt, leicht melancholisch, ziemlich keck und sehr berührend“. Wir schauen uns betroffen an, diesmal wegen Deniz Yücel.