Bericht
Prostitution – Sexarbeit oder weder Sex noch Arbeit?
Diskussionen zum Thema Sexarbeit werden seit längerer Zeit extrem hart und nicht selten verletzend geführt. Die Veranstaltung „Prostitution – Sexarbeit oder weder Sex noch Arbeit“ setzte daher den Schwerpunkt nicht nur auf die inhaltliche Debatte, sondern vor allem auf die Frage: Wie können in einem eskalierten Diskurs Brücken gebaut und ein konstruktiver Austausch gefördert werden?
20.09.2021 | 18-20:00 | Online-Webinar
Die Vorsitzende des Landesfrauenrates Dr. Christine Rabe eröffnete den Abend mit einer Begrüßung des Podiums und der Teilnehmer:innen der wie erwartet gut besuchten Veranstaltung. Die 2. Vorsitzende des LFR und Moderatorin des Abends Dr. Christine Kurmeyer betonte den herantastenden, experimentellen Charakter der Veranstaltung und die gemeinsame Intention: Allen soll es besser gehen. Ausgehend von dieser Gemeinsamkeit brauche es eine sachliche Differenzierung der Standpunkte – denn nur durch eine Identifizierung von Brückenpfeilern könne in Diskurs und Praxis auch eine Brücke gebaut werden.
Auf dem virtuellen Podium diskutierten: Saskia Nitschmann, Ausstiegsbegleiterin bei Sisters für den Ausstieg aus der Prostitution e.V. | Ruby Rebelde, Sexarbeiterin, Aktivistin und Mitglied von Hydra e.V. | Dr. Ann-Kathrin Biewener, Referentin für Sexarbeit der Bezirksverwaltung Tempelhof-Schöneberg.
Teilnehmer:innen der Veranstaltungen konnten sich per Chat an der Diskussion beteiligen. Die Tatsache, dass die Diskussion im Chat schon kurz nach Veranstaltungsbeginn destruktiv eskalierte, bestätigte die Notwendigkeit der Veranstaltung als Raum des respektvollen Dialogs. Der Chat wurde ca. nach der Hälfte der Veranstaltung abgeschaltet.
In einer ersten Runde stellten die Podiumsteilnehmerinnen ihre Grundpositionen dar: Ruby Rebelde stellte die Notwendigkeit der Entstigmatisierung von Sexarbeit in den Mittelpunkt. Es brauche keine Sondergesetze für Sexarbeit, sondern Lösungen für soziale Fragen. Saskia Nitschmann nahm den Begriff des Stigmas auf – nicht die Frauen, sondern sexkaufende Männer sollten stigmatisiert werden. Ein Sexkaufverbot sei zusammen mit Ausstiegshilfen und staatlich unterstützten Angeboten wie Schuldnerberatung der sinnvolle Weg. Ann-Kathrin Biewener vertrat als Referentin für Sexarbeit die Position der aktuell geltenden Regelungen: Sexarbeit ist Arbeit und solle als solche mit allen Konsequenzen anerkannt werden. Sie begrüßte die Möglichkeit, dass Prostitution so im „Hellfeld“ stattfinden könne, auch wenn dadurch noch viele Probleme nicht gelöst seien. Als Beteiligte am Runden Tisch Sexarbeit des Bezirks Tempelhof-Schöneberg teilte sie die Einschätzung, dass ein Austausch auf Augenhöhe notwendig und wichtig sei und über die Berliner Stadtgrenzen hinaus gehört würde.
Probleme, Symptome und passende Lösungen
In der zweiten Runde bat Christine Kurmeyer das Podium, zu differenzieren: Welche Probleme gibt es, was sind ihre Ursachen und was ihre Symptome? An welchen Stellen muss konkret angesetzt werden?
Saskia Nitschmann betonte die Dringlichkeit einer Fokusverschiebung von den eh schon unter gesellschaftlichem Druck stehenden Frauen auf die Freier. Alle Hürden und Bürden müssten durch die Gesetzgebung auf die Käufer von Sex zielen. Sehr viele Frauen seien unfreiwillig in der Prostitution. Es brauche mehr Möglichkeiten, niedrigschwellig Geld zu verdienen, so dass Frauen die Sexarbeit nicht als einzige Notlösung bleibe. Es brauche außerdem ein Bewusstsein dafür, dass es nicht um eine Vermeidung eines Abrutschens ins Dunkelfeld gehe: „Wir sind schon im Dunkelfeld“.
Ann-Kathrin Biewener argumentierte vor allem auf pragmatischer Ebene: Das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) müsse unter Einbezug aller Akteur:innen evaluiert werden. Ein Runder Tisch auf Bundesebene wäre sinnvoll. Trotzdem bleibe, so Ann-Kathrin Bienwener, das ProstSchG eine nationale Antwort auf ein europäisches Problem. Gesellschaftlich müsse daran gearbeitet werden, Sexarbeit zu entstigmatisieren.
Ruby Rebelde bezeichnete das ProstSchG als unwirksame Symptomkur, dass die eigentlichen Probleme nicht adressiere. Probleme seien kapitalistische Ausbeutung, die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, patriarchale und koloniale Strukturen, die nicht an nationalstaatlichen Grenzen aufhörten, so Ruby Rebelde. Es gelte hier Lösungen zu finden, um Frauen* vor Ausbeutung zu schützen und keine moralisch intendierten Sonderregelungen. Der Blick nach Schweden zeige, dass das sogenannte „Nordische Modell“ – ein Begriff, der sowieso sehr irreführend sei – vor allem Repression bedeute. Ruby Rebelde forderte den Wegfall repressiver Maßnahmen wie der Zwangsberatung und der Zwang zur offiziellen Anmeldung. Es müsse berücksichtigt werden, dass Faktoren wie z.B. Aufenthaltserlaubnis vielen Sexarbeiter:innen die Möglichkeit zur Registrierung unmöglich mache und so eine Spaltung zwischen angemeldeten und unangemeldeten Sexarbeiter:innen vorantreibe. Es brauche, so Ruby Rebelde, eine vernünftige Sozialpolitik, liberale Einwanderungsgesetze und die Entkapitalisierung des Wohnungsmarkts.
Evaluation, Zahlen, Studien
In der Diskussionsrunde wurde gemeinsam als Problem identifiziert, dass es wenig belastbare Studien gibt. Es bestand Einigkeit darin, dass existierende Studien nicht neutral, sondern von den jeweiligen Auftraggebern politisch intendiert seien. Dies führe zu erhöhtem Misstrauen und einer Unsachlichkeit in der Debatte. Ruby Rebelde erwähnte in dem Zusammenhang Lobby-Vorwürfe als ärgerliche Ablenkungsmanöver. Ann-Kathrin Biewener merkte an: „Die Debatte muss auf Zahlen aufbauen, es ist wichtig, alle Meinungen zu hören, nicht nur die lautesten.“
Bundestagswahl / Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2021 – Ist ein anderer Umgang wählbar?
Christine Kurmeyer stellte im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen die Frage, inwiefern diese den politischen Umgang mit Sexarbeit beeinflussen könne. Ann-Kathrin Biewener machte deutlich, dass die Umsetzung der konkreten Maßnahmen, die am Runden Tisch Sexarbeit erarbeitet wurden, auf Gelder angewiesen seien. Im derzeitigen Haushalt seien diese jedoch gestrichen worden. Ob und wie das ProstSchG nachgesteuert werden könne, sei also vor allem eine politische Frage der Finanzierung. Kürzungsbestrebungen bedrohe auch die Arbeit von Hydra e.V., bestätigte Ruby Rebelde.
Emotionen, Empathie & Sachlichkeit
Nach fortgeschrittener inhaltlicher Diskussion lenkte Christine Kurmeyer das Augenmerk erneut auf die Meta-Ebene. Erschrocken, welche Aggression seit langem die Debatte prägt, wiederholte sie: „Wir können das besser!“ Wie viel Emotion, wie viel Sachlichkeit braucht die Diskussion?
Saskia Nitschmann betonte die Notwendigkeit einer sachlichen Diskussion, forderte aber auch, gerade bei diesem Thema eine empathische Haltung zuzulassen. Im Anblick der leidvollen Lage, in der sich viele Prostituierte befänden, könne man nicht nur mit Zahlen argumentieren. Ähnlich, aber doch ganz anders ergänzte Ruby Rebelde, dass es einer wissenschaftlich gestützten Auseinandersetzung bedürfe, die ohne kommunikative Strategien wie othering und derailing auskomme. Sie warb aber auch darum, zu verstehen, woher die Wut in den Debatten kommt: Die Grundlagenforderung der Sexarbeiter:innen-Bewegung „Nicht über uns ohne uns“ würde sehr häufig missachtet. Nicht-Betroffene würden nicht mit, sondern über Betroffene und deren Existenz verhandeln, „da ist viel Frust und Wut“.
Wie weiter?
Nach einer lebendigen und respektvollen Diskussion wurde abschließend festgehalten: Alle Diskussionsteilnehmer:innen wollen, dass sich die Lage von Sexarbeiter:innen verbessert. Alle halten das derzeitige ProstSchG nicht für eine zufriedenstellende Lösung, was in der Evaluation zu Gehör gebracht werden muss. Die Debatte wird demnach weitergehen und Christine Kurmeyer sieht den LFR auch in Zukunft in einer vermittelnden Position. Um den differenzierten Austausch zu fördern, ist eine weitere Veranstaltung zum Thema angedacht. Christine Rabe bestätigte den Handlungsbedarf und die Verknüpfung der Thematik mit einer Kapitalismuskritik und einer Bearbeitung der sozialen Frage. Letztlich gehe es auch hier um Gleichstellungspolitik und Geschlechterverhältnisse. In dem Zusammenhang bedankte sich Christine Rabe bei den Teilnehmenden und Organisatorinnen der Veranstaltungen und sprach eine herzliche Einladung zur nächsten Veranstaltung am 18.10.2021 aus.
Ein Bericht von Elena Gußmann