Bericht
Wie frauenpolitisch wird die neue Koalition?

Posted by on Nov 23, 2021 in Allgemein

Was wird der neue Koalitionsvertrag in Sachen Gleichstellungspolitik bringen? Was muss nach Ansicht der einzelnen Koalitionsparteien und des Landesfrauenrates im Vertrag stehen? Diesen Fragen widmete sich eine lebendig geführte Veranstaltung des Landesfrauenrats inmitten der hochpolitischen Phase noch laufender Koalitionsverhandlungen.

15.11.2021 | 18-20:00 | Online-Webinar

Schon die Rahmenbedingungen der Online-Veranstaltung spiegelten wieder, wie viel Bewegung zur Zeit in der gleichstellungspolitischen Situation ist: Einmal war die Veranstaltung bereits verschoben worden, nun mussten die eingeladenen Sprecherinnen Dr. Ina Czyborra (SPD) und Anne Helm (DIE LINKE) mit Verweis auf die noch laufenden Verhandlungen kurzfristig absagen. So war es Dr. Bahar Haghanipour (Bü90/Die Grünen), Vize-Präsidentin des AGH Berlin, die sich allein stellvertretend für alle Koalitionsparteien den vielen Fragen der ca. 60 Teilnehmer*innen stellte.

Das Podium und der LFR

Eröffnet wurde der Abend durch die Moderatorin Tannaz Falaknaz (EAF Berlin), die betonte, dass Gleichstellungspolitik gerade in dieser dynamischen Phase – die Dachgruppe zu Gleichstellung verhandelt noch – Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung brauche. Nach einem Grußwort der Vorsitzenden des Landesfrauenrates Dr. Christine Rabe bekamen die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, sich in Kleingruppen (Breakout-Sessions) zu der Frage „Wie nehmen Sie Ihre Stadt gleichstellungspolitisch wahr?“ auszutauschen.

Zurück in der großen Runde befragte Tannaz Falaknaz Bahar Haghanipour nach ihren persönlichen Erfahrungen im Berliner Abgeordnetenhaus und zu einer Einschätzung nach wirkmächtigen gleichstellungspolitischen Tools. Bahar Haghanipour wies auf die Wichtigkeit

hin, Frauen in MINT-Berufe zu bringen. In dieser Zukunftsbranche sei viel Gestaltungsspielraum, der bislang von Männern dominiert werde. Mentoring-Programme seien ein gutes Mittel, um die Teilhabe von Frauen in der Zukunft zu sichern. Klar sei aber auch, dass dies nur eine Stellschraube von sehr vielen sei – Gleichstellungspolitik sei ein Querschnittsthema.

Die Teilnehmer*innen während der Diskussion

Diese Einschätzung wurde von der folgenden offenen Fragerunde bestätigt. Die Wortmeldungen thematisierten eine Vielzahl von gleichstellungspolitischen Aspekten, die weit über das Ressort „offene Gesellschaft“ hinaus in Bereiche der Arbeits-, Migrations-, Bildungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik reichten. Gesprochen wurde unter anderem über eine Studie zur Situation behinderter Frauen, eine Erweiterung des Landesantidiskriminierungsgesetzes, flexiblere Arbeitsmodelle in der Verwaltung, Entkriminalisierung von Sexarbeit, geschlechtergerechte Stadtplanung, Zugang zum Arbeitsmarkt für geflüchtete Frauen, Umstrukturierung von Sorge-Arbeit und die Umsetzung der Istanbul-Konvention.

Klar wurde aus der Diskussion auch, dass das Verständnis von Gleichstellungspolitik als Querschnittsthema problematische Seiten hat. Wie ist eine Verantwortungsdiffusion zu verhindern? Wie kann garantiert werden, dass Gleichstellungspolitik nicht nur als obligatorisches Anhängsel verhandelt wird? Wie können wichtige Projekte ihren prekären Status ablegen und langfristig gesichert werden? Bahar Haghanipour bestätigte die Dringlichkeit und das Interesse ihrer Partei, prekäre feministische Projekte zu verstetigen. Ein politischer Hebel dafür könne das Demokratiefördergesetz sein. Da Geschlechtergerechtigkeit ein Indikator für Demokratie eines Landes darstellt, mache es Sinn, so Bahar Haghanipour, auf gesetzlicher Ebene mit dieser Verknüpfung zu argumentieren und so befristete Projekte langfristig zu verankern.

Tannaz Falaknaz lenkte nun die Diskussion zu den Aspekten Parität und Gender Budgeting. Bahar Haghanipour ging auf die immer noch vorhandene Notwendigkeit und die laufende rechtliche Prüfung des Paritätsgesetzes ein, das in Brandenburg und Thüringen vor dem Verfassungsgericht gescheitert war. Es brauche eine Mindestparität und es sei wichtig, deren Einführung zusammen mit der Unterstützung einer breiten Öffentlichkeit anzustreben. Das Gender Budgeting sei ein vielversprechendes Instrument, das aber nach jetzigem Stand, so Bahar Haghanipur, analytisch sinnvoll, aber nicht wirklich wirksam sei. Es bestehe ihrerseits die Hoffnung, dass ein weiterentwickeltes Gender Budgeting mit Steuerungsfunktion in den Koalitionsvertrag mit aufgenommen werde.

Die rege Diskussion und breite Beteiligung zeigte, dass es nach Ansicht aller Veranstaltungs-Teilnehmer*innen noch viel zu tun gibt. Christine Rabe bedankte sich bei allen Beteiligten und kündigte an, dass der Landesfrauenrat die gemeinsame Diskussion nach Fertigstellung des Koalitionsvertrags weiterführen wolle. Abschließend wurde das Publikum herzlich zur nächsten Veranstaltung des Landesfrauenrats am 13.12. eingeladen: „Lesung mit Lilian Schwerdtner: Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt. Ein Plädoyer für Kollektivität und Selbstbestimmung“. Tannaz Falaknaz verabschiedete die Runde und lud die Teilnehmer*innen ein, sich im Anschluss weiter in Breakout-Räumen auszutauschen.

 

Ein Bericht von Elena Gußmann